Tischrede von Moritz Leuenberger, von 1995 bis 2010 Mitglied des Bundesrates, am Bärenmähli 2014
In meiner Amtszeit haben Bären eine grosse Rolle gespielt:
Vier Bären wanderten während meiner Amtszeit ein, auch ein Problembär mit Migrationshintergrund und Integrationsschwierigkeiten. Dieses Bären habe ich in meiner Rücktrittsrede speziell gedacht. Der Eisbär Knuth spielte während der Klimaverhandlungen eine Rolle. Ohne diesen Eisbär wüsste heute noch kein Mensch, dass es ein Klimaproblem gibt. Immer wieder bekam ich Briefe von begeisterten Umweltschützern: „Zusammen mit den Kindern fuhren wir im Auto nach Berlin in den Zoo und besuchten Knuth. So taten wir aktiv etwas gegen den Klimawandel.“ Bundespräsident Samuel Schmied erhielt vom russischen Präsidenten zwei Bären geschenkt. (An der Olma dagegen gibt es nur ein Schweinchen.) Meine Nachfolgerin zeigte schon immer eine grosse Begeisterung für Pandabären. Sie liess sich mit ihnen fotografieren und schaute ihnen ganz tief in die Augen.
Trotzdem werde ich meine heutige Ansprache nicht mit dem Ausruf beenden: „Ich bin ein Bär!“ Das würde mir niemand glauben. Bären sind stärker und haben eine tiefe Stimme.
Dafür beginne ich mit einem anderen Bekenntnis, das mit der Arbeit Ihrer Gesellschaft zu tun hat: Ich hatte einmal Integrationsschwierigkeiten. Ich zog als Zehnjähriger von Biel nach Basel und sprach Berndeutsch mit einem rollenden „R“ und meine ersten Lateinischwörtlein hatten einen berndeutschen Akzent. Der Lateinlehrer lachte mich aus und sagte, mit einem solchen Akzent könne man nie Lateinisch lernen:
„Glassischs Latiin deent wie Baseldytsch – Sunscht isch’s nit glassisch!“
So wurde ich denn im HG gehänselt und es gab Streit auf dem Pausenplatz, ich weinte und schrieb in der Wut an die Wandtafel: „Die Basler sind dümmsten Affen.“ Ich habe den Mais, den es danach gab, zwar längst vergessen oder verdrängt. Aber kürzlich kam ein Mann zu mir, unterdessen so alt wie ich, und rief mir das ganz vorwurfsvoll wieder in Erinnerung. Etwas verlegen entschuldigte ich mich: Ich meinte ja nur die Grossbasler!
Auf jeden Fall erwies sich jener Spruch auf der Wandtafel nicht gerade als hilfreich für meine weitere Integration in Basel. Meine Eltern schickten mich dann in eine Schule, die tolerant für schwierige Fälle war. Dort kam es ganz gut. Ich besuchte eine Schulklasse, die mich liebevoll integrierte, und ich lernte mich anzupassen. Das war mir dann später wieder hilfreich, denn ich musste mich immer wieder von neuem integrieren: In Zürich, wohin ich mit den Eltern von Basel ziehen musste. In der Partei, der ich beitrat. Die wollte ich verändern. Das gelang ein bisschen, aber noch mehr hat sie mich verändert. Später gab es Integrationsprozesse im Parlament und dann im Bundesrat. Dort ist es besonders schwierig und es gelingt ja auch nicht allen. Im Notfall zieht das Parlament dann die Notbremse und wählt einen hoffnungslosen Fall wieder ab.
Natürlich schäme ich mich noch heute für meine trotzige Reaktion damals und den Vergleich mit den Affen. Und doch muss ich sagen: Integration beginnt immer mit Selbstbehauptung, indem wir uns von den anderen abgrenzen. Der Berner Stadtpräsident zum Beispiel will sich von den kleinen Italienern abgrenzen, um zu zeigen, dass er schon gross ist. Das stimmt ja auch: Sein Mundwerk ist tatsächlich sehr gross. Er muss wie die Italiener noch viel arbeiten, vor allem an sich selber. Auch Gross- und Kleinbasel grenzen sich voneinander ab: Der Lällekönig streckt den Kleinbaslern pausenlos die Zunge heraus und der Vogel Gryff zeigt Grossbasel stets nur seinen Hintern.
Erst dieses Selbstbewusstsein ermöglicht dann auch eine wirkliche Auseinandersetzung mit den anderen. Da ist nicht einfach Anpassung oder Unterwerfung. Erst Identität, erst das Wissen um die eigenen Wurzeln, um die eigene Herkunft ermöglicht Integration.
Doch dann beginnt die grosse Arbeit. Weder können wir es dabei belassen, den anderen den Hintern zu zeigen und auf diesen Hintern als einziges Identitätsmerkmal stolz zu sein. Das tun ja auch nur einige wenige, die stets nur zurückblicken. Aber wir dürfen die Integrationsarbeit auch nicht romantisierend verklären. Wer das tut, erweist ihr gewissermassen einen Bärendienst.
Integration ist schwierigste Arbeit. Integration heisst, sich mit den anderen und mit uns selber auseinanderzusetzen, um eine Gemeinschaft von Menschen zu schaffen, die vorher getrennt waren. Wer weiss das besser als die Gesellschaft der Bärinnen und Bären. Integrationsarbeit ist notwendigerweise auch Freiwilligenarbeit. Natürlich kann und muss der Staat Integration fördern und mitorganisieren. Es muss auch ein Recht auf Integration geben und dieses Recht schafft der Staat. Pestalozzi sagte sogar: „Wohltätigkeit ist das Ersaufen des Rechts im Mistloch der Gnade.“
Da bin ich allerdings nicht ganz einverstanden. Den eigentlichen Geist der Integration kann der Staat nämlich nicht schaffen. Die Überzeugung, die Nächstenliebe, die Bereitschaft zur Hilfe und die Bereitschaft, sich selber zu verändern, das alles kann nicht staatlich verordnet werden. Wenn wir alle zwischenmenschlichen Bereiche mit Gesetzen regeln wollten, verkäme unser Staat zu einem eiskalten Organisator und die Moral der Nächstenliebe, der Hilfe zwischen den Menschen würde verloren gehen.
Das Leben zwischen den Menschen gestalten die Menschen. Dazu gibt es den berühmten Satz: „Zu Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland.“
Ich sehe die Bedeutung dieses Satzes von Gotthelf aber auch umgekehrt. Wenn sich das Vaterland abschottet, können auch die Menschen nicht wirklich zueinander finden. Auch ein Staat selber muss integrationsfähig und integrationswillig sein. Wie lange haben wir uns doch gegen den Beitritt zur UNO gewehrt. Und auch die Zustimmung im zweiten Anlauf war recht knapp.
Wir können nicht immer nur Nein sagen, Nein zum EWR, Nein zur EU, Nein zu Freizügigkeit, alle internationalen Zusammenschlüsse stets nur als Bedrohung ansehen, die Einwanderung radikal unterbinden und kontingentieren.
Ein Staat, der sich abkapselt und nur für sich allein existieren will, ist so erbärmlich wie ein Mensch, der nur für sich allein leben will.
Die Initiativen gegen die angebliche Masseneinwanderung und auch die Ecopop-Initiative würden unser Land in eine schwierige Isolation manövrieren.
Es gibt heute über die ganze Welt eine Arbeitsteilung und dank ihr sind unser Land und wir wohlhabend. Deswegen sichern wir diesen Wohlstand ab, zum Beispiel mit bilateralen Abkommen, die wir dann aber auch einhalten müssen. Und es bedeutet zudem, dass wir diesen Wohlstand teilen müssen. Dazu gehören Solidaritätsleistungen, Steuerabkommen oder auch die Aufnahme von Flüchtlingen. Wir müssen an der Lösung von Schwierigkeiten mitarbeiten, uns also in die Gemeinschaft einbringen. Lampedusa ist nicht nur die Sache von Italien, sondern von allen Schengenstaaten, zu denen die Schweiz gehört (und darüber hinaus nicht nur von den Schengenstaaten, sondern von der ganzen Staatengemeinschaft).
Autarkie führt in die Armut. Das hat schon Rousseau festgestellt. Absolute Autonomie ist gar nicht möglich. Die heutige Welt ist zu eng verwoben.
Das hat sich in den Jahren seit dem Fall des Eisernen Vorhanges beschleunigt.
Heute fällt es auf einem Pausenplatz in Kleinbasel nicht auf, wenn einer Berndeutsch spricht. Da werden alle Sprachen der Welt gesprochen, wie heute Abend ja auch. (Man hat mich gewarnt, es gehe heute Abend mit den vielen Kindern zuweilen so lärmig zu wie auf einem Pausenplatz; ob mich das nicht störe. Ich kann Sie trösten: Ich sprach fünfzehn Jahre im Nationalrat; das ist der lärmigere Pausenplatz …)
Die globale Vernetzung ist eine Folge der grenzüberschreitenden Wirtschaft, des Kapitalmarktes, der Warenhandels, aber auch von Internet, Skype, Facebook, der Medien, welche heute in einem weltumspannenden Kommunikationsraum verkehren. (Es ist ja manchmal auch besser, wenn so SMS in der Welt herum gesendet werden als an die eigenen Mitarbeiterinnen.)
Die Welt ist heute derart vernetzt, dass wir gar nicht anders können, als integrativ zu denken und zu arbeiten. Und das wird hier vorbildlich geleistet.
Denken wir nur an alle die Erfolgsgeschichten, die aus Kleinbasel, dem Sitz der Bärengesellschaft, stammen: An das Teddybärenturnier, an den Midnight Basketball, zu dem man als Zürcher nur sagen kann: Schappo! Typisch Kleinbasel! Denken wir an das schweizerische Unternehmen mit dem höchsten Börsenwert, die Roche; es wäre ohne aktive Integrationsarbeit nie so weit gekommen; es sitzt in Kleinbasel. Denken wir an die Uhren- und Schmuckmesse, die ohne die Vorarbeit der Gesellschaft zum Bären sich niemals so hätte entwickeln können. Sie thront in Kleinbasel. Denken wir an die sozialen Stadtrundgänge von surprise, die jetzt in die übrige Schweiz exportiert werden. Wo wurden sie erfunden? In Kleinbasel. UND erst: an das heutige Abendessen!
Damit wir den Grundsatz der Integration und der Freiwilligenarbeit uns jährlich in Erinnerung rufen, wird das Bärenmahl organisiert. Jährliche Rituale haben in einem Staat eine wichtige Bedeutung und sollen ja auch nicht immer nur für Erinnerungen an Schlachten erfolgen. Das heutige Mahl gewinnt an Bedeutung. Aus der ganzen Schweiz kommen Gäste. Sogar das Schweizer Fernsehen interessiert sich. Es strahlt ja eine Sendung über berühmte Schweizer aus und findet einfach keine Schweizerinnen. Nun hat man in Leutschenbach gehört, dass der Bär vom Kleinbasel vielleicht eine Bärin gewesen sei und so hätte das Fernsehen endlich eine berühmte Schweizerin gefunden, mit der man mindestens eine Folge filmen könnte.
Viele von diesen historischen Figuren sind ja Legenden. Es hat sie in Wirklichkeit nicht gegeben oder jedenfalls nicht in der Form, wie wir sie uns über Generationen überliefern. Für unser Selbstverständnis, für unsere Schweizerische Identität sind sie aber dennoch wichtig, gerade wenn die überlieferte Form nicht historischen Tatsachen entspricht. Denn war wir aus einer Überlieferung machen, ist wichtig.
Es gibt Zweifel daran, ob Wilhelm Tell wirklich gelebt habe oder ob er nur eine Legende sei, ob uns da Schiller einen Bären aufgebunden hat. Es gibt Zweifel darüber, ob Bruder Klaus wirklich ein so guter Mann gewesen sei oder ob er einfach Frau und Kind verlassen habe und allein sein wollte. Auch bei Winkelried gibt es solche Zweifel. Und jetzt hören wir als Neustes, dass es die Schlacht von Morgarten gar nicht gegeben habe! Das verunsichert uns natürlich.
Auch bei der Geschichte des Bären aus dem Kleinbasel haben Vertreter von Ehrenwerten Kleinbasler Gesellschaften Zweifel geäussert. Ich habe deshalb dem Bundesarchiv die Frage gestellt, wie das mit dem Bär sei, denn ich wollte da nicht in eine Falle treten. Ich erhielt folgende Antwort: „Wir haben die Fiche des Bären konsultiert und können Ihnen Ihre Anfrage nach dem schwarzen Bären bezw. Bärin wie folgt beantworten: So wie Sie uns diesen Teil der frühen Schweizer Geschichte schildern, trifft sie leider nicht zu. Der Schwarze Bär bezw. Bärin ist nämlich keine Legende. sie ist eine historische Tatsache!“ Die wichtigste Figur der Schweizer Geschichte ist keine Legende. Sie lebt seit vielen Jahrhunderten hier im Kleinbasel und sie lebt für immer in unseren Herzen:
Die schwarze Bärin!