Tischrede von Yahya Hassan Bajwa aus Pakistan, Kommunikationswissenschafter in Baden, am Bärenmähli 2005
Szene 1: Als Muslim in der Schweiz – ein Schweizer Muslim?
Welchen Hut soll ich mir heute aufsetzen, um mich als Muslim zu outen, wenn ich das islamische „Vater unser“ rezitiere? – „Im Namen Allahs, des Gnädigen, dem Barmherzigen. Aller Preis gehört Allah, dem Herrn der Welten, dem Gnädigen, dem Barmherzigen, dem Meister des Gerichtstages. Dir alleine flehen wir um Hilfe. Führe uns auf den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, die nicht Dein Missfallen erregt haben und die nicht irregegangen sind.“
Szene 2: Im Spitalbett
Ich liege im Bett. Name und Aussehen lassen erkennen, dass ich nicht gerade aus dem Emmental stammen kann. Es ist Zeit für die Arztvisite. Plötzlich geht die Türe auf und der Oberarzt, weitere drei Ärzte, eine Ärztin, die Oberschwester und weitere Personen in Weiss treten ins Zimmer. Ich lege die Zeitung weg und beobachte, wie die ganze Gruppe von einem Bett zum anderen geht. Jedes Mal fragt der Oberarzt, wie es dem Patienten geht. Dann, endlich bin ich dran. Mit einem netten Lächeln fragt mich der Oberarzt: „Wo Sie Schmerz?“ Dabei zeigt er mit seiner Hand auf den frisch operierten Fuss. „Sie Schmerz?“ wiederholt er, als er plötzlich die „Neue Zürcher Zeitung“ neben meinem Kopfkissen entdeckt. Fast erschrocken meint er: „Ach, Sie lesen die NZZ? Ich habe die gleiche Ausgabe!“ Daraufhin sage ich sichtlich gelangweilt: „Kann ich mir schon vorstellen, ist schliesslich die heutige Ausgabe …“
Nachdem die Geister in Weiss weg sind, lehne ich mich bequem im Bett zurück und frage mich: „Was ist hier geschehen?“
Scheinbar beginnt die Kommunikation bereits mit dem Aussehen. Was sich der Oberarzt wohl überlegt hat? Vielleicht: Der sieht ausländisch aus; (2.) Der sieht ja sehr ausländisch aus, auf keinen Fall europäisch; (3.) Wenn der Nicht-Europäer ist, dann vermutlich Asylbwerber oder Gastarbeiter; (4.) Asylbewerber sprechen doch kaum Deutsch; (5.) Ergo: „Du nix gut sprechen Deutschland, oder?“ damit überhaupt eine Verständigung möglich ist. Was hat also die Hautfarbe oder mein scheinbar nicht aussprechbarer Name mit der Sprachbeherrschung des „Schwiizerdütschen“ zu tun?
Szene 3: Nachbehandlung beim Onkel Doktor
Ich freue mich. Ich darf zum Onkel Doktor, der nochmals schauen will, ob nun alles verheilt ist. Also setze ich mich auf den Stuhl im leeren Zimmer und warte. Ich schaue auf die vielen Bücher. „1970“ steht da auf dem Buchrücken ? schon lange nicht mehr aussortiert und in die Papiersammlung gegeben. Da geht plötzlich die Türe auf, und mein Doktor steht vor mir, reicht mir die Hand und setzt sich auf seinen Stuhl. Plötzlich wird er ernst, lehnt sich zurück und fragt: „Ich habe da eine Frage, aber verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Haben Sie was mit einer terroristischen Organisation zu tun?“ Erstaunt antworte ich: „Meinen Sie so mit Waffen? Ja, sicher. Ich gehe in die Schweizer Armee.“ Nein, nein, so wäre dies nicht gemeint. Aber: „Wissen Sie, ich möchte nicht, dass es später heisst, ich hätte einer fundamentalistischen Organisation medizinische Hilfe gegeben. “ Erstaunlich. Später, als er seine Taschenlampe nimmt, um mir in die Augen zu schauen, sage ich in einer sonoren, bedrohlichen Stimme: „Herr Doktor, schauen Sie mir tief in meine bösen Augen.“ Erstaunlich. Als ich dann endlich gehen durfte, sagte ich zur Arztgehilfin: „Luget Sie mir doch Mal i d?Auge! Bin ich öppe en Terrorischt?
Auf dem Heimweg erinnere ich mich an die erste Begegnung dieser Art. Ich sass auf dem Stuhl und wartete im leeren Zimmer. Ich schaute auf die vielen Bücher. „1970“ stand da auf dem Buchrücken ? schon lange nicht mehr aussortiert und in die Papiersammlung gegeben. Da ging plötzlich die Türe auf, und mein Doktor stand vor mir, reichte mir die Hand und setzte sich auf seinen Stuhl. „Wie geht?s? Was haben Sie für ein Problem?“ Und so ging es 15 Minuten lang in gebrochenem Deutsch ? ich konnte schon fast nicht mehr. „Ach, ich han dänkt, dass Sie ebe kei Dütsch rede chönd.“ Ich dachte: Wenn ich damals nicht gesprochen hätte, hätte er dies als Depression diagnostiziert ? in einer anderen Kultur lautet die Diagnose vielleicht anders: „In der Person wohnt ein höheres Wesen“; oder: „Die Person ist von einem Dämon besessen“. Vor nicht allzu langer Zeit wurden die bösen Geister auch in Europa auf interessante Weise vertrieben ? manchmal kam es sogar soweit, dass dabei die Patienten verbrannt wurden. Selbst das Nichtkommunizieren, das Verstummen, kommuniziert der Aussenwelt, dass irgendetwas nicht mehr stimmt. Also durfte ich nicht schweigen. Als endlich diese Tortur vorüber war, fragte mich mein Arzt: „Händ Sie mich verstande?“ ? „Ja, sicher“, antwortete ich, „Sie reded no es einigermasse aaschtändigs Schwiizerdütsch!“ – Da hätt? er fascht d?Schrube gmacht!