Tischrede von Silvia Schenker, Nationalrätin SP, am Bärenmähli 2016
Liebe Anwesende
Heute soll ein Tag der Freude und Begegnung sein. Ein Tag, an dem wir zeigen, wie wichtig das Miteinander ist. Und das gerade hier, an einem Ort und in einem Teil unserer Stadt, wo dieses Miteinander in einem besonderen Mass gepflegt wird. Ganz herzlichen Dank für die Einladung.
Ich wurde gebeten, heute über ein Thema zu sprechen, das mich schon lange beschäftigt und zu dem am 28. Februar eine Abstimmung stattfindet. Ich bitte Sie, mir auch dann zuzuhören, wenn Sie Ihre Stimme an der Urne nicht abgeben können. Nicht nur, weil gerade Sie von dieser Abstimmung potentiell betroffen sind, sondern weil Sie ganz bestimmt in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis Stimmberechtigte haben.
Sollte die sogenannte Durchsetzungsinitiative, über die Ende Februar abgestimmt wird, angenommen werden, käme dies einem Dammbruch gleich. Die SVP hätte dann einen Sieg errungen, der sie in ihrem Kampf gegen das internationale Völkerrecht einen grossen Schritt weiterbringt.
Ich möchte ganz kurz die Geschichte der Durchsetzungsinitiative erläutern, weil das ganz wichtig ist für das Verständnis dessen, was ich vorhin gesagt habe. Im November 2010 wurde die Volksinitiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative) vom Volk angenommen. Leider gelang es damals nicht, die Initiative erfolgreich zu bekämpfen. Das bedeutet, dass die doppelte Bestrafung für Ausländerinnen und Ausländer in unserer Verfassung verankert ist. Mit doppelte Bestrafung meine ich folgendes: Ausländerinnen und Ausländer, die ein Delikt begehen, riskieren, dass sie dafür einerseits gemäss Strafgesetz bestraft werden und darüber hinaus riskieren sie, dass sie des Landes verwiesen werden und damit die Schweiz verlassen müssen. Dass wir damals den Abstimmungskampf verloren haben, hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Linke gespalten war in der Frage, wie man die Initiative am besten bekämpft.
Die SVP hat zwei Jahre nach Annahme der Ausschaffungsinitiative die sogenannte Durchsetzungsinitiative eingereicht. Mit der Durchsetzungsinitiative – so sagten es die Initianten – wollen sie erreichen, dass die Ausschaffungsinitiative „endlich“ umgesetzt wird. Sie warfen dem Bundesrat und dem Parlament vor, dass diese die Arbeit verweigern und die Ausschaffungsinitiative nicht umsetzen wollen. Das ist schlicht gelogen. Das Parlament hat fristgerecht innerhalb der vorgegebenen 5 Jahre ein Gesetz erarbeitet, das die Ausschaffungsinitiative sehr hart umsetzt. Dieses Gesetz kann – sobald der Bundesrat dies entscheidet, und das würde er unmittelbar nach der Ablehnung der Durchsetzungsinitiative tun – in Kraft treten.
Die SVP richtet mit ihrer Durchsetzungsinitiative ein grosses Chaos an. Würde diese Initiative angenommen, wäre nicht klar, was nun gilt. Gilt das, was dann neu in der Verfassung stehen würde? Oder gilt der Artikel, der in der Ausschaffungsinitiative stand und jetzt in der Verfassung ist? Was ist mit dem Gesetz, das von beiden Parlamenten verabschiedet wurde? Chaos und Rechtsunsicherheit pur würde dann herrschen.
Wenn ich aber zu Beginn von Dammbruch gesprochen habe, dann meine ich nicht das. Ich meine auch nicht die stossende Ungleichbehandlung von Schweizern und Ausländern mit der doppelten Bestrafung. Der Dammbruch, den ich meine, besteht darin, dass mit der Durchsetzungsinitiative das ganz wichtige Grundprinzip der Verhältnismässigkeit von staatlichem Handeln nicht mehr zum Tragen kommen würde. Dieses Grundprinzip steht auch in unserer Verfassung. Die Richterinnen und Richter, die bei ausländischen Straftätern die Strafe erlassen, dürfen nicht mehr darüber entscheiden, ob eine Landesverweisung in diesem konkreten Fall verhältnismässig ist und ausgesprochen werden soll. Die Richter dürfen wichtige Grundrechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgehalten sind, wie das Recht auf Familienleben, nicht mehr berücksichtigen. Das bedeutet mit andern Worten, und das habe ich zu Beginn schon gesagt, dass die SVP einen grossen Schritt weiter ist mit ihrer nächsten Initiative, die auf das internationale Völkerrecht und somit auch auf die europäische Menschenrechtskonvention zielt.
Es geht also bei der Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative um sehr, sehr viel mehr als die Frage, wie wir mit kriminellen Ausländern umgehen. Es geht um die Frage, ob wir weiterhin wollen, dass im Einzelfall geprüft wird, ob eine Ausschaffung – also staatliches Handeln – verhältnismässig ist oder eben nicht. Es geht um die sehr wichtige Frage, ob die Schweiz wichtige Grundrechte, die in der EMRK festgehalten sind, respektiert oder nicht. Und es geht zuletzt oder vielleicht zuerst um die Frage, ob die SVP in unserem Land alles, aber auch wirklich alles durchsetzen kann.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Ereignissen von Köln und anderorts sagen. Was dort Männer Frauen angetan haben, ist unter gar keinen Umständen zu dulden. Die Täter gehören hart bestraft und wo notwendig müssen auch politische Konsequenzen gezogen werden. Gewalt gegen Frauen darf nirgends und niemals toleriert werden. Egal, von wem sie ausgeübt wird. Mir ist bewusst, dass diese Ereignisse für uns den Abstimmungskampf zur Durchsetzungsinitiative noch schwerer machen. Die Stimmung ist – nicht nur in Deutschland – aufgeheizt. Das bereitet mir grosse Sorgen, auch für die Asyl- und Migrationspolitik in der Schweiz.
Trotzdem und erst recht bitte ich Sie alle inständig darum: Sprechen Sie mit allen über die verheerenden Folgen, die eine Annahme der Durchsetzungsinitiative hätte. Diesen Kampf können wir gewinnen. Wir müssen ihn gewinnen.
Und jetzt lasst uns gemeinsam diesen Tag geniessen.