
Mit dem gleichsam magischen Ausruf „dr Vogel Gryff“ bezeichnen die Glaibasler ihr „Nationalereignis“, den alljährlichen Umzug der Drei Ehrenzeichen, der seit 1797 im regelmässigen Turnus im Januar abgehalten wird. Der Vogel Gryff gehört zu den eindrücklichsten Bräuchen, die eine schweizerische Stadt in unserer Zeit zu bieten hat. Die Hauptakteure dieses Kleinbasler Volksfestes sind die Wappenhalter der Drei Ehrengesellschaften: der Vogel Gryff der Gesellschaft zum Greifen, der Wilde Mann der Gesellschaft zum Haeren und der Leu der Gesellschaft zum Rebhaus. Als Fabelwesen und Symbolfiguren entstammen sie dem Reich der Mythologie. Ihr Erscheinungsbild erfüllt die Menschen gleichzeitig mit Bewunderung und Furcht, und ihre übernatürlichen Kräfte wecken Anerkennung, Verehrung und Verherrlichung.
Im Restaurant «Schwarzer Bären» hängt ein Bild mit vier Kleinbasler Ehrenzeichen. Doch vom vierten Wappentier wurde nur eine Legende überliefert: Vor vielen Jahren zog am Vogel-Gryff-Tag zusammen mit dem Vogel Gryff, dem Wilden Mann und dem Leu auch ein grosser schwarzer Bär durchs Kleinbasel. Er war das Wappentier der Gesellschaft zum Bären und eine Symbolfigur für das freie, offene und unabhängige Kleinbasel.
Der Bär war der Liebling der Kleinbasler Frauen, Männer und Kinder. In der Gesellschaft zum Bären fanden vor allem Leute zusammen, die kein hohes Amt bekleideten. Doch diese Gesellschaft hatte grossen Einfluss im Kleinbasel. Weil sie so beliebt war, konnte sie vieles bewirken. Sie setzte sich dafür ein, dass die armen Leute im Winter nicht frieren mussten und dass im Kleinbasel niemand hungern musste. Dank der Bärengesellschaft konnte mancher im Kleinbasel seine Meinung öffentlich sagen, ohne auf dem Scheiterhaufen zu enden. Der Bärengesellschaft war es zu verdanken, dass im Kleinbasel der Unterschied zwischen Reichen und Armen nicht so krass war wie auf der anderen Seite des Rheins.
Doch einige 3-E-Kleinbasler hatten von den Bären genug. Sie wollten keine Rücksicht auf jene nehmen müssen, die nicht so viel besassen wie sie. An einem Vogel-Gryff-Tag schlugen die Verschwörer zu! Beim letzten Marsch der vier Ehrenzeichen durch die Rheingasse packten sie den grossen schwarzen Bären, fesselten ihn und warfen ihn in den eiskalten Rhein.
Kurz darauf wurde die Gesellschaft zum Bären aufgelöst. Ihre Anhänger durften sich nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen. Sämtliche Akten, die auf die Gesellschaft zum Bären hinwiesen, wurden verbrannt. Das Gesellschafthaus am Schafgässlein wurde verkauft. Die «unbequeme» Gesellschaft wurde aus der Zunftgeschichte Kleinbasels liquidiert!
Immer mehr geriet der Bär in Vergessenheit. Der schwarze Bär war aber nicht tot! Im Estrich des ehemaligen Gesellschaftshauses, im Restaurant «Schwarzer Bären», hörte man seltsame Geräusche. Wenn man gut aufpasste, waren sie eindeutig als Tanzschritte zu erkennen. Je näher der Vogel-Gryff-Tag rückte, desto lauter wurden diese Schritte. Dort lebte also der Geist des schwarzen Bären.
Er musste traurig zusehen, wie die Nachkommen jener Gesellschaftsbrüder, die ihn in den Rhein geworfen hatten, den Vogel Gryff immer mehr zum Club der Grossen umfunktionierten, in dem Geltungssucht, Beziehungen, Geld und Geschäfte mehr zählten als Gesellschaft und Soziales.
1998 ist der Bär aber wieder aufgetaucht. Das ärztliche Team der Kleinbasler Hammer-Praxis hatte zu einem Fest unter der Johanniterbrücke eingeladen. Die Gäste staunten nicht schlecht, als kurz vor Mitternacht ein grosser, schwarzer Bär aus dem Fluss trottete und, von Trommelwirbel und Büchelklang begleitet, zu tanzen begann. An diesem Abend wurde die «Gesellschaft zum Bären» neu gegründet. Am Bärentag im Januar 1999 tanzte der Bär zur Freude vieler Kinder zum ersten Mal durch die Strassen des Unteren Kleinbasel.