Tischrede von Prof. Georges Lüdi, Dozent an der Uni Basel, am Bärenmähli 2007
„Babylonische Pausenhöfe“ sind ein Politikum geworden. Vielerorts wird über das Thema Deutschpflicht an Schulhöfen diskutiert, damit sich Schweizer und Migranten, aber auch Migranten unterschiedlicher Nationalitäten, untereinander verständigen und sich in Schule, Arbeitswelt und Gesellschaft integrieren könnten. Dank einer gemeinsamen Sprache könnten auch Ausgrenzungen, Provokationen und Gewalt vermieden werden.
Sprache dient, so weiss man, der Persönlichkeitsentwicklung, erlaubt es, sich selbst zu begreifen, Alltagsprobleme wahrzunehmen und ? in der Regel in der Interaktion mit anderen ? zu bewältigen. Die Sprache dient des weiteren zur kognitiven Entwicklung, sie ist notwendig, um Gedanken zu klären, zu ordnen und zu strukturieren, neues Wissen und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Sprache ist aber auch der hauptsächliche Träger des sozialen Handelns, mit ihr werden komplexe Handlungen gesteuert, sie ermöglicht Verständigung und Kooperation. Mit ihr wird Gruppenzugehörigkeit markiert; sprachlich handelnd nehmen wir teil an der Konstruktion der sozialen Wirklichkeit. Voraussetzung für alle diese Funktionen ist nicht nur die oberflächliche Kenntnis einer Sprache, sondern ihr regelmässiger Gebrauch in ihrer ganzen Komplexität. Mangelnde Sprachpraxis und Sprachkompetenz können generell Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung zur Folge haben; in der Schulsprache führen sie häufig ungeachtet der an sich vorhandenen Intelligenz zu Schulversagen. Wer der Sprache nicht mächtig ist ? auch in ihrer schriftlichen Ausprägung ?, kann nicht aktiv an der Gestaltung seiner Welt teilnehmen. Persönlichkeitsstörungen, Schulversagen und gesellschaftliche Marginalisierung sind nun freilich alles mögliche Ursachen von Gewalt. Studien haben gezeigt, dass dies auch bei einsprachigen Kindern aus „geh ? hol ? bring ? nein ? gopfridschtutz“-Familien der Fall ist, in denen gerade auch die Eltern ihre Sprachohnmacht durch ? verbale und non-verbale ? Gewalt „kompensieren“. Kinder mit Migrationshintergrund, die in der Aufnahmesprache „sprachohnmächtig“ sind, reagieren mitunter ebenso mit vermehrter Gewalt. Es ist also richtig, der Förderung des vorschulischen, schulischen und ausserschulischen Erwerbs von hohen Kompetenzen in der Aufnahmesprache ein grosses Gewicht beizumessen.
Darf man deshalb guten Gewissens auf die nachhaltige Berücksichtigung der Herkunftssprache verzichten? Nein, sagen die Spezialisten. Dies hängt mit der Entwicklung der Zweisprachigkeit zusammen. Man weiss, dass die Probleme bei Kindern aus spracharmem familiärem Milieu am dramatischsten sind. Weil Sprachlosigkeit in der Erstsprache den Erwerb einer Zweitsprache nachhaltig erschwert, sind solche Kinder in beiden Sprachen „sprachlos“ ? mit verheerenden Folgen. Eine noch stärkere Vernachlässigung der Erstsprache ist aber gerade nicht die Lösung. Im Gegenteil entstehen viele Probleme der Migrantenkinder durch eine Entfremdung von ihrer Muttersprache (und damit von ihrer Herkunftskultur), wenn diese völlig aus dem Bildungssystem ausgeschlossen sind. Migranten und namentlich deren Kinder müssen m.a.W. in ihrer Mehrsprachigkeit ernst genommen werden und dürfen nicht auf die Herkunfts- oder die Aufnahmesprache reduziert werden. Das Basler Gesamtsprachenkonzept hat glücklicherweise diese Problematik erkannt und fordert ? über die Förderung des Deutsch-Erwerbs hinaus ? eine nachhaltige Förderung der Erstsprachen.
Die Ohnmacht von Migranten geht aber weiter und betrifft auch die Ohnmacht gegenüber diskrimierenden, fremdenfeindlichen Diskursen, darunter der öffentlichen Geringschätzung der Herkunftssprachen und ?kulturen. Viele der Ansätze der Integration von Zuwanderern scheitern daran, dass die Aufnahmegesellschaft nur gerade die Defizite in deren Kompetenz in der Aufnahmesprache sieht ? und entsprechend immer lauter die Forderung nach Deutschkursen, Deutschprüfungen u.ä. erhebt ?, während andere Dimensionen verdeckt bleiben. Lösungen sind aber nur dann nachhaltig, wenn man die Probleme umfassend angeht. Notwendig sind politische Massnahmen und schulische Modelle, welche auf ein generelles „empowerment“ bzw. die Überwindung der institutionalisierten Ungleichheit an Ressourcen zwischen Ortsansässigen und Zugewanderten hinzielen. Daran, dass eine entscheidende Verbesserung der Kenntnisse der Zugezogenen in der Aufnahmesprache dazu gehört, besteht keinerlei Zweifel. Aber sie deckt nur einen Teil der Probleme ab. Kreative Lösungen sind konsequent bi- oder multilingual. Aufgrund der namhaften Vorteile der frühkindlichen Mehrsprachigkeit (mehrsprachige Kinder sind häufig kreativer, intelligenter, flexibler in ihrem Kommunikationsverhalten und sozial kompetenter als einsprachige mit denselben Profilen), empfiehlt sich eine möglichst frühzeitige Exposition gegenüber beiden Sprachen, z.B. im Rahmen von Krippen und Frühkindergärten. Gemäss neuesten Studien wird je nach frühkindlicher Sprachexposition ein unterschiedliches Sprachprozessierungssystem aufgebaut, welches wohl für die genannten Vorteile verantwortlich zeichnet.
Derartige Lösungen bedingen nicht nur von Seiten der Aufnahmegesellschaft, sondern ebenso von Seiten der Migranten selbst, ein Umdenken, eine Abkehr von eindimensionalen, d.h. einsprachigen und monokulturellen Vorstellungen des Individuums und von der Forderung nach einsprachigen („homoglossischen“) Gesellschaften. „Babel“ ist für viele immer noch eine Chiffre für Unruhe und Chaos. Diese Haltung lähmt kreative Lösungen. In Wirklichkeit sind unsere postmodernen Gesellschaften meist polyglossisch, d.h. sie setzen sich zu einem grossen Teil aus, in unterschiedlichster Weise, mehrsprachigen Individuen zusammen. Dies muss kein Defizit sein. Mehrsprachige Menschen, die stolz auf ihr mehrprachiges Repertoire sein können, bedeuten im Gegenteil für jede Gesellschaft eine unschätzbare Bereicherung, aber auch eine bedeutende Ressource. Tragen wir zu diesen Ressourcen Sorge, nehmen wir die Mehrsprachigkeit ernst!
Anmerkung: Prof. Lüdi hat am Bärenmähli frei gesprochen. Wir publizieren daher hier kein Votragsmanuskript, sondern einen vom Inhalt her vergleichbaren Text.