Tischrede von Alt Nationalrat Andrea Hämmerle, Jurist und Biobauer im Ruhestand, am Bärenmähli 2017
Liebe kleine und grosse Bärenfreundinnen und -freunde!
Ich stamme aus einem Bärenland, und meine Vorfahren hatten sogar eine Bärentatze im Familienwappen. Doch die Bären waren schlecht geduldet. Anfang der 1900er Jahre erlegten zwei Unterengadiner Jäger den letzten Bären der Schweiz. Stolz stellten sie unter grossem Beifall die Beute zur Schau. Alle freuten sich über die glückliche bärenlose Zeit. Ziemlich genau hundert Jahre später wanderte wieder ein junger Bär ein – wieder in der Südostecke der Schweiz. Und seither taucht immer wieder einer auf, und seither scheiden sich die Geister. Die einen feiern die seltsamen, drolligen Einwanderer. Andere verteufeln sie: In der Schweiz sei einfach kein Platz da für Bären und für die viel harmloseren, aber unpopulären Wölfe schon gar nicht. Aber wer einen Bären legal oder illegal schiesst, darf heute anders als vor 100 Jahren nicht mit Applaus rechnen. Er muss anonym bleiben. Überlassen wir den Entscheid doch den Bären. Wenn es ihnen hier wohl ist, sind sie willkommen – im Kleinbasel jedenfalls scheint es der Bärin ja durchaus zu gefallen.
Doch nicht von der Bärenwelt will ich heute erzählen, sondern von der Menschenwelt. Diese Welt ist klein geworden. Auch die fernsten Länder sind nah, nur wenige Flugstunden entfernt. Trotz dieser Nähe, trotz oder wegen der Globalisierung sind die Lebensumstände und -chancen der Menschen grundverschieden. Wenige Flugstunden von hier herrschen brutale Kriege – in Syrien und anderswo. Wenige Flugstunden von hier gibt es „failed states“, kaputte Staaten.
Zum Beispiel der Kongo. Wer kommt auf die verrückte Idee, dorthin zu reisen? Ich! Ein Leben lang habe ich mich an die chinesische Weisheit gehalten: „Einmal sehen ist besser als hundertmal hören“. Deshalb besuchte ich letztes Jahr mit einem Freund ausgerechnet den Kongo, das Paradebeispiel eines zerrütteten Landes. Es war das pure Gegenteil einer lockeren Touristenreise. Trotzdem bereue ich es nicht, dass ich ins „Herz der Finsternis“ geflogen bin.
Kongos Hauptstadt Kinshasa hat etwa 10 Millionen Einwohner, etwa 50-mal mehr als Basel. Das Budget aber, wenn es dort so etwas überhaupt gibt, ist sicher um ein Vielfaches kleiner. In dieser Stadt funktioniert nichts. Trinkwasser und Elektrizität sind Mangelware oder fehlen ganz. Das staatliche Bildungs- und Gesundheitswesen sind marode. Es gibt keinen öffentlichen Verkehr. Lokomotiven und Wagen verrosten auf verrotteten Schienen. Die Strassen sogar in benachbarte Millionenstädte sind unpassierbar.
Als Kontrastprogramm: Auf der Rückreise von Kinshasa über Brüssel landeten wir pünktlich in Zürich. Doch am Bahnhof Zürich Flughafen tönte die Lautsprecherdurchsage so: „Der IC nach Zürich HB – Bern – Freiburg – Lausanne – Genf – Genf Flughafen hat ca. 4 Minuten Verspätung“, was bei einzelnen Schweizer Kunden schon eine leichte Verärgerung hervorrief.
Wie überleben die Menschen im Kongo unter diesen Umständen? Es gibt drei Strategien: Improvisation, Korruption und (Gewalt-)Kriminalität, meist ist es eine Kombination davon. Die wichtigste – ungeschriebene – Verfassungsbestimmung heisst denn auch: „Comment se debrouiller“ (Wie schlägt man sich durch). Am schlimmsten ergeht es den Kindern. Nicht selten werden sie von ihren Familien aus purer Not verstossen, landen auf der Strasse, werden kriminell und gewalttätig. Staatlich geduldete Gangs jagen und töten sie wie andernorts streunende Hunde.
An Stelle des zerrütteten Staates treten andere Akteure auf den Plan. Evangelikale Kirchen und Sekten versprechen den Menschen wenigstens fürs Jenseits das Blaue vom Himmel und ziehen ihnen dafür noch die letzten lumpigen Francs aus der Tasche. Das Gleiche tun die Grossbrauereien. Mit billigem Bier hellen sie den tristen Alltag etwas auf. Der brillante junge belgische Historiker van Reybrouck bringt es so auf den Punkt: „La bière et la prière“ (Das Bier und das Gebet). Zudem haben die Grosskonzerne, die dem Staat weit überlegen sind, freie Hand, die unendlichen, wertvollen Rohstoffe fast zum Nulltarif auszubeuten und aus dem Land zu schaffen. Es reicht, ein paar korrupte Politiker zu bestechen – am besten den Clan des Präsidenten, der übrigens ungefähr gleich viele staatliche Mittel verschlingt wie das ganze Gesundheitswesen! Und da ist noch die unglaublich schöne kongolesische Musik, die alle Herzen erwärmt. Deren Superstars sind allerdings als Werbebotschafter mit den beiden Grossbrauereien verbandelt.
Warum erzähle ich Euch das? Weil wir kaum eine Vorstellung davon haben, wie die Menschen zum Beispiel im Kongo leben. Es interessiert die meisten von uns nicht wirklich. Umgekehrt ist das anders. Viele Kongolesen wissen dank den auch dort weit verbreiteten modernen Kommunikationsmitteln ziemlich genau, wie wir im reichen Europa leben. Ich erzähle Euch das auch, weil der Kongo viel mit der Schweiz zu tun hat. So befindet sich der Hauptsitz der Rohstoffhandelsfirma Glencore in Zug. So hat jede und jeder von uns mit seinem Handy ein Stück Kongo in der Tasche: Coltan. Und so platzierten und platzieren afrikanische Potentaten – auch Mobutu und auch Kabila – ihre gestohlenen Gelder auf Schweizer Banken.
Noch gibt es in der Schweiz nur wenige Flüchtlinge aus dem Kongo und anderen afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Noch kommen die meisten Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten des Nahen und Mittleren Ostens oder aus Eritrea. Noch bewegen sich die meisten afrikanischen Flüchtlinge innerhalb Afrikas. Es sind viele Millionen. Das muss nicht so bleiben. Solange die schreienden Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, die unglaubliche Misere bestehen, gibt es die reale Möglichkeit einer grossen Fluchtbewegung von Afrika nach Europa. Menschen, welche die Sahara durchquert haben, die Überfahrt übers Mittelmeer überstanden haben, können wir schwerlich zurückschicken. Wohin denn, auf die griechischen Inseln oder nach Lampedusa?
Wir Schweizer und Europäerinnen haben zwei hauptsächliche Handlungsoptionen. Die erste: Hissen wir die nationalen Flaggen! Bauen wir Mauern und Zäune um unsere goldenen Käfige! Vertrauen wir alten, machtbesessenen starken Männern, die uns in eine heile Vergangenheit zu führen versprechen, die es so nie gegeben hat! Auch wenn manche Entwicklungen und Wahlen in diese Richtung zeigen, lehrt doch alle Erfahrung und Vernunft, dass das nicht funktioniert.
Es bleibt die zweite Option, die zugegeben alles andere als einfach ist: Öffnen wir unsere Köpfe und unsere Herzen! Seien wir uns bewusst, dass wir nur per Zufall und nicht aus irgendwelchem Verdienst Schweizerinnen und Schweizer sind – wir könnten auch Kongolesen sein! Geben wir also den Flüchtlingen, die bei uns landen, eine Chance, sich bei uns zu integrieren und zu entwickeln! Setzen wir uns ein für eine gerechtere Welt und für eine solidarischere Schweiz! Auch wenn wir wissen, dass wir das allein nicht schaffen. Denn unsere Losung heisst: Wir graben, wo wir stehen! Und wir stehen hier in der reichen und heilen Schweiz.
Verstehen wir Umbrüche, Turbulenzen, Migrationsbewegungen, Fremde als Chance und Bereicherung – genauso wie den Besuch der Bärin vom Kleinbasel, die uns fast Angst einjagen könnte, uns, unseren Kindern und Enkelinnen aber tatsächlich viel Freude macht!
Danke!